Smart enough? Alte Bildungsideale neu entdeckt

In der Diskussion um smartes Lernen, digitale Bildung, Wissensvermittlung 2.0 wäre sein Beitrag vermutlich unter den Tisch gefallen: Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen (!) der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ sind zwar inhaltlich höchst progressiv. Deshalb fielen sie 1792 vermutlich auch der Zensur zum Opfer, bevor sie 1851 erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurden. Massen- bzw. marketingtauglich im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie ist der Titel bis heute nicht. Das ist schade, skizziert er doch mit den Aspekten der Selbstverantwortung, Entwicklungsorientierung, Vielfalt und Partizipation exakt die Basisdimensionen dessen, was unser modernes Bildungssystems noch immer nicht erreicht. Nicht alles, was der preußische Minister und humanistische Denker beschreibt, passt direkt in unsere Zeit. Der uneingelöste Anspruch einer auf den Menschen bezogenen Bildungsidee, die über Erziehung und Qualifikation hinaus für sich und an sich Relevanz, Motivation und Wirksamkeit besitzt, jedoch bleibt.

Philosophie für die Praxis!

Die Orientierung an einer – individuell zu definierenden und anzustrebenden – Ganzheitlichkeit ist das humanistische Pendant zur selbst“gemachten“ Kompetenzbiografie unserer Zeit. Letztere hat zwar auf dem Markt der sozio-ökonomischen Selbstdarstellung im Mainstream der Employability gerade Konjunktur. Spätestens jedoch im kritischen Dialog, der komplexen Entscheidungsfindung im Umfeld von Innovation und Veränderung bedarf es weit mehr als der Fähigkeit, qua  Erfahrung, Wissen und Können situativ passend zu agieren. Das Spiel mit den Möglichkeiten beherrscht nur derjenige, der Unsicherheit und Unschärfe bewusst integriert. Kompetenz ist eine Funktion, Bildung ein Antrieb, der die Perspektiven des Nichtwissens und Nichtkönnens auslotet, um neue und bessere Optionen für die Zukunft zu generieren. Ein System, das – nur – funktioniert, erzeugt keinen Zusammenhalt, schafft keinen Sinn. Ein System, das inspiriert, offenbart Anspruch und Widerspruch, integriert Neues und Anderes über das Bekannte und Machbare hinaus. Scheitern ist dabei jederzeit eine Option, das Lernen aus den Misserfolgen und die Entwicklung einer individuell passenden Balance jedoch auch.

Mehr Bildung heißt nicht weniger Kompetenz

Dass die Kompetenzlogik auch nach fast 30 Jahren die Schulen, Institutionen und Unternehmen noch immer nicht komplett durchdrungen hat, liegt vor allem an zwei Gründen: Kompetenz braucht immer ein „wohin“ und „wozu“, also einen normativen Bezug, um wirksam zu werden. Zum anderen fehlt die Klammer eines Bildungskonzepts, das die Person statt die Institution, den Inhalt statt die Form in den Mittelpunkt stellt und damit gleichzeitig einen bessere Abstimmung und größere Durchlässigkeit der institutionellen Angebote und Abschlüsse möglich macht.

Alles schon mal dagewesen …

Eine Bildungskatastrophe, wie vor 50 Jahren öffentlich ausgerufen, haben wir gerade nicht. Wohl aber mit der digitalen Transformation eine gesellschaftliche Herausforderung, die nur durch ein eigenes Bild, nur durch eine kritische Bildung bewusst erlebt und gestaltet werden kann. Und es fehlt an nachvollziehbaren Wegen, die vielen Inseln der Bildung in unserer Republik miteinander zu verbinden und anzuwenden. Digitale Bildung, also die Vermittlung und Nutzung digitaler Medien und Prozesse, ist ein wesentlicher Teilaspekt, um die neue Wirklichkeit verstehen zu lernen und Wissen theoretisch für jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort zur Verfügung zu stellen. Was fehlt, ist eine zeitgemäße Version der Bildungsidee, gefolgt von der politischen und ökonomischen Umsetzung. Humboldt 2.0 ist bereits in vielen (hoch-)schulischen Konzepten eines lern(er)orientierten Unterrichts Realität. Auf der anderen Seite bleiben digitale Recruiting-Programme auf formale Qualifikationen fokussiert, hört Ganztages- und ganzheitliche Betreuung nach dem Kindergarten- oder Grundschulalter auf, sind die Ein- und Umstiegschancen für Ältere oder geringer Qualifizierte zwischen gemeinnütziger und Erwerbsarbeit höchst unausgewogen verteilt. Wir brauchen kein Mehr an Qualifikation, sondern ein Mehr an Bildung und einen öffentlichen interdisziplinären Diskurs darüber, welches Wissen in welcher Form in den Kindergärten, Schulen und Ausbildungsstätten gelehrt und gelernt werden soll. Das Wissen hierzu liegt längst vor. Mit den individualistischen und partizipativen Leitideen der Humanisten und Aufklärer und der kritische Didaktik informeller und selbst gesteuerter Lehr-/Lernformate, den Erkenntnissen der Gehirnforschung und Lerntheorie liegen fundierte und anwendungsorientierte Ziel- und Lösungskategorien bereits vor.

Anja Ebert-Steinhübel
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