Tief mal breit? Die Neuerfindung der lernenden Organisation

Was kommt Ihnen beim Thema betriebliche Aus- und Weiterbildung in den Sinn? Kataloge im Hochglanzformat? Die jährliche Zielvereinbarung? Wochenendseminare im Grünen, gefolgt von einem vollen Schreibtisch zurück im Büro? Ganz gleich wie innovativ und interessant die Angebote gestaltet sind, in der Regel finden sie immer noch vorwiegend inputorientiert, standardisiert, ergänzend und abgekoppelt vom jeweiligen beruflichen Alltags statt.

Weiterbildung kommt regelmäßig zu spät

Eine vornehmlich als Korrektur oder Anpassung post hoc verstandene Bildung kommt für die Zukunft der neuen Arbeitswelt zu spät. Zwar rühmen sich die aktuellen Statistiken über das Weiterbildungsvorkommen der deutschen Unternehmen einer nicht nur quantitativen, sondern durchaus auch qualitativen Zunahme in Richtung Workplace Learning, das sowohl informelle als auch virtuelle und indiduell gestaltete Lerneinheiten integriert. Das Dilemma liegt jedoch in der Perspektive: Für eine kontinuierlich mit Unsicherheit, Veränderung und Komplexitätserhöhung konfrontierte Wirklichkeit muss Bildung als individueller und organisationaler Lernprozess die Regel sein – und nicht die Ausnahme, als „Eingriff“ in die Normalität, wie es die übliche Organisation und das Sprachgebaren der Bildungs„instrumente“ und „-maßnahmen“ verrät.

(Organisations-)Bildung vorausdenken

Diese lebenslange, institutionenübergreifende Bildung in der Version 2.0 (von 4.0 zu sprechen, hieße einige Entwicklungsschritte auszulassen) bringt neue, offenere und übergreifendere Inhalte mit neuen, flexibleren, digitalen und analogen Formaten zusammen. Sie beantwortet und fördert ein neues, aktiveres Nachfrageverhalten und eine höhere Eigenmotivation der Lernenden, bedarf neuer didaktischer und persönlicher Kompetenzen für Ausbildung und Organisation und führt zu einem neuen, wechselseitig sich beeinflussenden Rollenverhältnis der Akteure im Bildungsprozess. Bildung 2.0 ist Treiber und Schmierstoff einer agilen Organisation, die sich intern und extern auf die digitale Transformation einzustellen weiß.

Personalentwicklung ist tot – es lebe die Personalentwicklung!

Das organisierte Eigenleben vieler Personalentwicklungen kommt damit zu einem abrupten Ende. Was lange schon gefordert, in der Realität aber nur selten konsequent Einzug gehalten hat – das Zusammendenken und Zusammenwirken der POE – wird zur ultima ratio. Strukturell und vor allem auch kulturell gelingt dies nur im – ebenfalls längst fälligen – Aufstieg der HR in den strategischen Olymp. Von dort aus kommen Impulse und Steuerung des Lernens der gesamten Organisation, das in den individuellen Bildungsprozessen immer wieder neu formiert und inspiriert wird. Nicht nur die einzelnen Programme sind also einer „Verjüngungskur“ zu unterziehen, sondern auch die Akteure selbst stehen im Fokus einer neu orientierten Form des Lernens in und für die Organisation. Eigenaktivität und Netzwerkbildung, Nachhaltigkeit und der Blick über den Tellerrand des eigenen Handlungsfelds hinaus sind wesentliche Marker eines Bildungsverhaltens, das es bei Anbietern und (bisherigen) „Empfängern“, Ausbildern, Führungskräften und Organisatoren zu erproben und aufeinander abzustimmen gilt. Das bedeutet einen Bewusstseinswandel auf allen Seiten und einen wesentlich umfassenderen, kooperativ zu gestaltenden Wirkungsbereich der HR-Verantwortlichen als bisher.

Die drei „i“ des neuen Bildungsmodells

So komplex und offen die Unternehmensprozesse heute vielfach scheinen, so sind sie doch im Kern vor allem durch drei wesentliche Neuerungen orientiert: Individualisierung, Interaktivität und Integration bilden den gemeinsamen Kern der globalen, technologischen, ökonomischen und sozialen Zukunftstrends. Digitalisierung ist in diesem Zusammenhang gedankliche Folie und hilfreiche Technologie zugleich: Zur Bewältigung der Veränderungsqualität einer digitalen Arbeits- und Lebenswelt reichen traditionelle Medien und Lernsettings nicht mehr aus. Die Bereitstellung individualisierter und interaktiver, zeit- und ortsunbahängiger Formate machen eine für den Einzelnen in seiner spezifischen Lern- und Arbeitssituation passende Qualifizierung quasi auf Knopfdruck möglich. Der Schlüssel für den Erfolg liegt jedoch in der Integration – mit bestehenden Inhalten, Erfahrungen, Begegnungen und Herausforderungen in der analogen Welt. Diese Mammutaufgabe allein auf die Schultern der Personaler abzuwälzen, wäre grob fahrlässig. Deren Job ist die Feinjustierung und die immer wieder neu herzustellende Balance der Aktivitäten auf die gemeinsamen Ziele und (ökonomischen) Möglichkeiten hin. Sinn mal Verantwortung, Netzwerk mal Kompetenz, individuell mal ganzheitlich,… tief mal breit – Holacracy lässt grüßen – könnten diese neuen Dimensionen der Bildungsarbeit in der Organisation sein.

Anja Ebert-Steinhübel
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