Postfaktisch oder mit Gefühl!?

Zeitdiagnose im Spiegel deutscher Sprachkritik

Was war gut, was war schlecht im Rückblick auf ein vergangenes Jahr? Sprachwissenschaftlich liegt 2016 zwischen den Fronten von Substantiv und Adjektiv: Bereits zum zweiten Mal wurde der „Gutmensch“, „Gutbürger“ oder das „Gutmenschentum“ im Januar zum Unwort 2015 gekürt, während als Wort des Jahres 2016 „postfaktisch“ sicher noch einen langen Siegeszug in den anstehenden Reden und Veranstaltungen zum Jahreswechsel vor sich hat.

Wort und Unwort gemeinsam ist ihre Ambivalenz

Während „Gutmenschen“ aus Sicht derer, die sie so benennen, in ihrem Handeln pauschal belächelt, kritisiert, gar diffamiert werden, zielt „postfaktisch“ nicht auf die Modernisierung eines auf bloße reduzierten Weltbildes, sondern meint im Gegenteil den Verlust einer Stimmungen, Irrationalismen, gar Lügen transzendierenden und ordnenden Vernunft. Legt man beiden Begriffen die Zeitdiagnose einer zunehmend mehrdeutigen und unsicheren – postmodernen – Realität zugrunde, so bleibt doch die Frage nach dem – aufklärerischen – Nutzen, den beide für sich beanspruchen: Die Wahl der Begriffe soll schließlich zur Reflexion über das öffentliche Wort und die darin enthaltene öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung anregen, so der selbst formulierte normative Anspruch der Wissenschaftler. Zusammen gefasst hieße das, wir sind auf dem Weg in eine durch Emotionen, flüchtige Stimmungen und Allianzen gekennzeichnete Gesellschaft, die ihr „Wir“ immer wieder neu und wenig nach bisherigen Zugehörigkeiten und Gewissheiten zu formieren sucht. – Starker Tobak, so kurz vor Weihnachten…

A propos Weihnachten

Auch hier treffen Geschichte und Glaube, Wissen und Wunsch aufeinander und bilden gemeinsam die Grundlage zumindest unserer bisher dominanten abendländischen Tradition. Problematisch ist nicht das Spannungsfeld. Problematisch ist vielmehr die Grenzziehung, und das erfahren wir gerade höchst faktisch und real in der politischen Welt – weit über den Wettstreit der Sprachkünstler hinaus. Der lebenspraktische Sinn es „Postfaktischen“ liegt in der einfachen Erkenntnis, dass es DIE Fakten und DIE Gewissheit heute nicht mehr geben kann und dass es höchste Zeit ist, beide Dimensionen unserer Wirklichkeit, das Fühlen und das Handeln auch im scheinbar neutralen Raum der Politikvermittlung wie dem gesamten Gesellschaftsgeschehen immer wieder neu auszuhandeln und aufeinander zu beziehen. Das macht die öffentliche Diskussion nicht einfacher. Es ist jedoch – um ein weiteres Unwort zu bemühen – alternativlos, wenn man die logische Alternative einfacher, aber undifferenzierter „Wahrheiten“ bedenkt.

Anja Ebert-Steinhübel
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