Vorurteile

Kästchen, öffne dich!

Hilfe in Sicht: Forscher finden eine Impfung gegen Vorurteile … Im letzten Blogbeitrag zu den netten „Kästchen“ in unseren Köpfen – neudeutsch: „Schemata“, „Frames“, „Taggings“ oder „Scripts“ – habe ich darauf hingewiesen, dass es vorrangig nicht darum geht, diese komplett aufzugeben (was auch hirntechnisch bzw. neuropsychologisch nicht vorgesehen ist), sondern vielmehr darum, sie von Zeit zu Zeit (genauso wie die häuslichen Socken-, Foto-, Gewürz- und andere Schubladen) frisch zu ölen, auszumisten, neu zu sortieren etc..
Wie gefährlich nämlich Fehlsortierungen oder Sperrungen – weniger im Küchenschrank denn in sozialen Beziehungen und vor allem auch für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit sein können, beschreibt der Wissenschaftsjournalist Ed Young in der Zeitschrift Gehirn und Geist (10/2014): Stereotype Annahmen und Erwartungen über das Verhalten sozialer Gruppen können bei diesen massive Ängste und Bedrohungen auslösen („stereotype threat“), was über sich selbst erfüllende Prophezeiungen zu entsprechenden Verhaltensanpassungen führt: Wenn mich alle für einen Versager halten, werde ich dies über kurz oder lang vermutlich auch sein.

Der Rosenthal-Effekt

Bekannt ist dieser Mechanismus auch als Rosenthal-Effekt, bei dem die als besonders intelligent und engagiert bezeichneten Schüler überdurchschnittliche Leistungen erzielen, wohingegen die als faul und unfähig etikettierte Gruppe entsprechend schlechter – in der Wahrnehmung der Lehrpersonen ebenso wie in den Prüfungsergebnissen – abschneiden. Vor allem dann, wenn die Probanden selbst darauf hingewiesen werden, einer spezifischen Kategorie anzugehören („social tagging“), also beispielsweise vor einer Prüfung Geschlecht, Alter oder Hautfarbe ankreuzen oder benennen müssen, passen sie ihr individuelles Verhalten der vermeintlichen Leistungserwartung dem Klischee entsprechend an.
Neu ist diese Erkenntnis also nicht. Spannend sind aber die Forschungsergebnisse der jüngsten Vergangenheit, die nicht nur differenzieren, in welchen Fällen und bei welchen Persönlichkeits- und Verhaltensmustern die Konditionierung durch bedrohliche (oder auch unterstützende) Stereotype wirkt, sondern vor allem auch, wie sich dieser Teufelskreis durchbrechen lässt: Gegen das vermeintliche „typische“ Verhalten von weiblichen/männlichen, gebildeten/ungebildeten, jungen/alten, Minder-/ Mehrheits-Gruppenangehörigen kann eine Art mentaler Impfstoff verabreicht werden: Die Impfung gegen negative Erwartungen gelingt durch das Gegengift positiver Einstellungen, die das Selbstbewusstsein in Bezug auf die spezifische Situation stärken und damit gegenüber Vorurteilen seitens anderer resistent machen.

 

Stärkenorientierung gegen Vorurteile

Viele Inklusionsspezialisten betreiben bereits eine Impfung gegen Vorurteile, wenn sie unterstellten Defiziten mit einem stärkenorientierte Verhalten begegnen. Vom gesellschaftspolitischen, didaktischen und ökonomischen Ansatz abgesehen ist der Mechanismus jedoch vor allem für unsere ganz persönliche Entwicklung relevant: Die gedankliche Übung, eigene Werte und Wichtigkeiten für sich zu notieren und zu reklamieren, um schließlich mit anderen darüber zu kommunizieren, ist ein wesentlicher Beitrag für ganz praktischen wertschätzenden Umgang mit anderen und uns selbst. Wieder geht es nicht darum, Unterschiede zu nivellieren, sondern zu akzeptieren und die Kästchen weit zu öffnen, die als Vorurteile unsere Sicht einengen und versperren.

Anja Ebert-Steinhübel
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