Kompetenz kommt von Können … oder nicht?

„Kompetenz“ ist für uns ein Werturteil. Darin steckt vor allem das Vertrauen gegenüber einer anderen Person, das Richtige zu tun und die Unterstellung, dies qua Fähigkeit und Talent auch zu können. Über das Qualitätsversprechen hinaus bedeutet „Kompetenz“ im organisationalen und unternehmerischen Kontext auch die generalisierte Zielgröße erfolgreicher Handlungsfähigkeit in einem heute noch nicht klar zu bestimmenden zukünftigen Feld. Es geht also um Potenzial – nicht um Ergebnis, um Werte – nicht um Richtigkeit, um Zukunft – nicht um Gegenwart, wenn Kompetenzen im Spiel sind. Im täglichen Arbeitsalltag wird diese semantische Offenheit leider nur allzu schnell – selbst von Personalern, die es doch wissen müssten –  zugunsten einer deutlich einfacheren, weil klarer definier- und analysierbaren Logik des Könnens preisgegeben: Vom Recruiting über Bildungsprogramme bis zur gesamten Unternehmensentwicklung dominiert der Fokus auf das „Ist“ gegenüber dem „Soll“ oder „Wird“, auf Kosten einer Identifikation neuer Talente und Möglichkeiten in einer – das jedoch ist die Voraussetzung – selbst lernfähigen und -bereiten Führung und Organisation.

Dynamisch, persönlich, wertorientiert  – (k)ein Konzept von gestern…

Im Grunde ist die Kompetenzorientierung ja ein alter Hut: Entwickelt in den 1990er Jahren vor allem in den Arbeiten von Rosenstiel und Erpenbeck, spiegelte sie damals die betriebswirtschaftliche Ära der strategischen Unternehmensführung auf der Ebene der Mitarbeiter und Teams. Unschlagbar umständlich, klausurtauglich und praxisfeindlich zugleich ist der dabei geborene Begriff der „Selbstorganisationsdisposition“. Denn im Unterschied zu erlernten Qualifikationen oder angeborenen Talenten setzten Kompetenzen ein aktives Erkennen und Erlernen neuer Situationen, die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion sowie Kommunikationsfähigkeit voraus, durch die es gelingt, nicht nur besser zu handeln, sondern in diesem Handeln auch von andern als besonders souverän erlebt zu werden. Kompetenz ist daher auch weniger ein Prozess-, denn ein Persönlichkeitsphänomen, das auch Teams und Organisationen für sich beanspruchen können: Kompetenz, so könnte man sagen, hat Charakter, da sie nicht zufällig passiert, sondern auf Basis bewusster Entscheidungen in einem Umfeld des Nicht- oder Noch-nicht-Gewussten passiert.

Selbstorganisation in Zeiten von Unsicherheit

 

  • Kompetenz als Selbstwirksamkeit
    (persönliches Kompetenzstreben und -erleben)
  • Kompetenz als Zuschreibung
    (Interaktionsfeld qua Position, Zuschreibung, Kultur)
  • Kompetenz als Handlungsraum
    (permanente Lernerfahrung und -reflexion)

 

Neue Begriffe braucht das Land? Solange es hilft…

In der aktuellen Debatte wird die angestaubte Semantik des Kompetenzbegriffs durch die Erweiterung als „Zukunfts-“ oder „Digitale Kompetenzen“ zu überwinden versucht. Das macht es sprachlich nicht besser und verringert – viel schlimmer – die Distanz zur täglichen Bildungs- und Berufspraxis eher nicht. Dasselbe könnte mit den vom Stifterverband für die deutsche Wissenschaft und der Unternehmensberatung McKinsey formulierten „Future Skills“ entstehen, die mit dem sinnigen Untertitel „Welche Kompetenzen in Deutschland fehlen“ ein umfassendes „Aktionsprogramm“ für die Arbeitswelt 4.0 beschreiben. Was wir aber zuallererst benötigen, ist die Erkenntnis, dass es für die Zukunft keine eindeutigen Konzepte und Kataloge mehr geben kann. Die wichtigste und zugleich schwierigste Kompetenz liegt darin, sich auf diese Ungewissheit kognitiv und mental einzustellen. Das erfordert ein Bildungssystem, das Lebenslanges Lernen im Sinne niedrigschwelliger Zugänge, formaler und informeller Konzepte, übergreifender Angebote und individueller Impulse über die gesamte Lebensspanne hinweg zu etablieren versucht. Und es bedarf kluger Personaler und Führungskräfte in den Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen, die die Performance des gesamten Systems in den diversen Kompetenzen ihrer Teams und Mitarbeiter spiegeln und umgekehrt. Für jeden Einzelnen von uns bedeutet es aber auch, sprachfähig zu werden hinsichtlich der eigenen Stärken und Entwicklungsziele und offen zu sein für die Talente anderer, um schließlich gemeinsam besser zu werden und neue Chancen zu eröffnen, die wir alleine weder entdecken noch realisieren können. Die Tatsache, dass wir morgen in einem Feld kompetent sein könnten, das wir jetzt noch gar nicht kennen und dabei Skills zu verwenden, die wir heute noch gar nicht können, sollte uns nicht abschrecken, sondern Mut machen. Kompetenz kommt von Können – geht aber weit darüber hinaus. Daher sollten wir die Kompetenzidee erst einmal für uns erschließen und erweitern, bevor wir sie als Konzept der Vergangenheit begraben.

Anja Ebert-Steinhübel
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