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Wie dringlich ist der Appell zur Veränderung? Welche Radikalität zeichnet das neue Konzept? Welche Umstände rufen zur Revolution, wann (noch) trägt geplante Evolution?

Veränderung setzt Begreifen, nicht nur Rhetorik voraus

Am Beginn jeder strategischen Überlegung stehen, zumindest für den, der sie initiiert und moderiert, eben diese Fragen. Die Differenzierung des „normalen“ Fortschritts (der die sequentielle Logik im Namen trägt) gegenüber der „disruptiven“ Transformation (die nicht nur bislang unbekannte Ziele formuliert, sondern uns selbst zugleich neu definiert), setzte immer schon die extremen Entscheidungsperspektiven zwischen Sicherheit und Risiko, zwischen scheinbarer Gewissheit und offensichtlicher Unsicherheit.

Die vermeintliche Balance zwischen den Veränderungsoptionen war auch in der Vergangenheit eine Illusion. In Zeiträumen einer relativ stabilen Konjunktur tendiert die Waage entsprechend unserer psychologischen Präferenz zur Beibehaltung des Bekannten, Vertrauten, Bewährten, des status quo. Umso lauter scheinen jetzt die Rufe nach dem Aufwachen, dem Aufbrechen der alten Muster, dem Auszug in das Land der umfassenden (digitalen) Transformation. Schon werden Gewinner und Verlierer nominiert: als jene, die sofort ihr Bündel schnüren versus andere, die erst einmal abwarten und erkennen wollen, wohin die Reise geht.

Das Entweder-Oder ist keine Option

Der Diskurs um die radikale Qualität und Ubiquität der globalen Trends wird aktuell eher holzschnittartig geführt: Hier die innovativen Pioniere einer digitalen Transformation unserer Lebens- und Arbeitswelt in ein Format 4.0, dort der Rest derer, die mit den Begriffen nicht so gut zu jonglieren wissen und Nischen besetzen, positiv als „traditionell“ oder „authentisch“, negativ als „Auslaufmodell“ etikettiert.

Die größte strategische Gefahr liegt nicht im Auftreten neuer, unbekannter Situationen und Kontexte, sondern darin, diese mit unseren alten Denk- und Handlungsmustern gleichsam zu vergewaltigen. So ähnlich hat dies der strategische Vor- (nicht: Nach-)Denker Peter F. Drucker einmal formuliert. Unsere Welt ist nicht mehr zweidimensional zu fassen, nicht mehr linear abzubilden, und vermutlich war sie dieses auch nie. Anstelle des Entweder-Oders muss eine neue Logik des Sowohl-als-auch, der Pluralität von Optionen, die eben nicht irgendwo zwischen A und B zu entscheiden sind, sondern vielmehr punktuell in einer jeweils konkretisierten Netzwerkformation.

Bewusste Verantwortung als Schlüsselkategorie

„Culture eats strategy for breakfast“ (noch einmal Drucker) ist ebenso bekanntes wie missachtetes Bonmot des Managements in Theorie und Praxis: Jeglicher Lern-, Entwicklungs- Veränderungsfähigkeit gehen ein entsprechendes Bewusstsein, eine Bereitschaft für Neues, eine Offenheit für mögliches Scheitern voraus. Voraussetzung hierfür wiederum ist das Vorhandensein passender Begriffe, erprobt im jeweils meinungsbildenden, realitätsstiftenden theoretischen oder praktischen, professionellen oder privaten sozialen Diskurs. Beides zusammen also, der Begriff und seine Deutung, geben uns erst die Chance, Entscheidungen für eine unbekannte (unbenannte) Zukunft treffen zu können. Dieses Begreifen zu unterstützen und selbst danach zu streben, ist nicht delegierbare Führungsverantwortung und reicht weit über das eigene unternehmerische Handeln hinaus.

Die Abwägung zwischen Fortschritt und Disruption ist daher rhetorische Basis, nicht jedoch Zielkategorie einer Strategie. Die Abwägung der möglichen Wirkungen und Effekte, nicht nur für die eigene Organisation, sondern im Kontext des größeren sozialen, ökonomischen und ökologischen Umfeldes, schließlich ersetzt planmäßiges Entscheiden durch den Weitblick bewusster ethischer Reflexion.

Entscheidung im Kontext – zur Aktualität Joseph A. Schumpeters

Wie sind die aktuellen Trends also zu bewerten, welcher Innovator ist gut, welche Innovation nutzlos oder gar „zerstörerisch“? Der von Joseph A. Schumpeter 1942 eingeführte Begriff der #schöpferischenZerstörung ist heute mindestens so relevant wie damals. „Sind #ElonMusk, #JeffBezos & Co. schöpferische Zerstörer?“ fragen #Alex&Verne in ihrem Blogbeitrag Reinhard Pfriem, den Mitherausgeber des aktuellen Buches „Schöpferische Zerstörung und der Wandel des Unternehmertums. Zur Aktualität von Joseph A. Schumpeter“ (Metropolis ). Das spannende Interview lesen Sie hier: https://www.alex-verne.com/interview-mit-herrn-professor-dr-pfriem/

Unfreeze

Jede bewusste Veränderung beginnt mit einem – meist unbewussten – Schock: Beim Wechsel oder bei der Umkehr der Wegrichtung weg vom „Weiter so“ wird die Gewissheit des bisherigen Meinens, Wissens und Könnens obsolet. Statt dessen steht die Auseinandersetzung mit neuen Möglichkeiten, Informationen und Ideen auf der Agenda, deren Einpassung in die Koordinaten der eigenen Wirklichkeitssicht nicht zwingend reibungslos erfolgt, in jedem Falle aber einen Aufbruch aus der bisherigen Behaglichkeit des Bekannten und Vertrauten mit sich bringt. Dieser Aufwand ist nicht immer schmerzhaft, in jedem Fall aber spürbar. Denn grundsätzlich sind wir in unserem Bedürfnis nach physischer Sicherheit, emotionaler Stabilität und kognitiver Konsistenz einander gleich. Abweichung, Unsicherheit oder Ambivalenz werden psychologisch stets als Störung empfunden. Da aber jegliche Veränderung als Impuls eben dieses Störgefühls als Anreiz bedarf, muss ein professionelles Change Management und ein bewusster Umgang eines sozialen Systems jedweder Größe und Formation diese latente Change-Resistenz reflektieren und aktiv überwinden.

Unfreeze – Move – Refreeze

Der Sozialforscher Kurt Lewin bezeichnete diesen Vorgang bzw. Zustand eines psycho-sozialen Systems im Vorstadium aller Entwicklungs- und Lernprozesse als „Unfreeze“. Damit gemeint ist das notwendige Raum und Bedeutung geben durch ein Aufbrechen, Öffnen oder „Auftauen“ der bisherigen Wohlfühl-Stabilität. Diese wahrgenommene Irritation, die fehlende Balance im Gleichgewicht der alten, beharrenden und neuen, treibenden Kräfte zwingt zum Aufmerken und kann sowohl von außen oder innen, passiv oder aktiv herbeigeführt werden. Nach dem klassischen Modell der Veränderung sozialer Systeme folgt nach einem ausreichenden und gut verarbeiteten Unfreeze die eigentliche Veränderung (Move), in der die Entwicklungsziele umgesetzt, alte Muster und Verfahren abgelegt und neue eingeführt und erprobt werden. Schließlich werden die Innovationen im kollektiven Verhalten gesichert, d.h. als gesetzte Strukturen und Muster akzeptiert und konsolidiert (Refreeze), um die Nachhaltigkeit des Wandels zu gewährleisten.

Zeitdiagnose: Nichts bleibt!?

Die Schlagworte zur Bezeichnung unserer gegenwärtigen Realität sind so schillernd und plakativ wie nie zuvor: Statt Wandel erfahren wir „Transformation“, statt Evolution oder gar Revolution erleben wir „Disruption“, statt von schlichter Interdependenz sind unsere alltäglichen und beruflichen Systeme mit dem „VUKA-“Virus infiziert. Übersetzt bedeutet dies: die Veränderungen sind unumkehrbar, sie sind zerstörerisch und sie sind gleichzeitig wenig greifbar, weil flüchtig oder volatil, unsicher, komplex und ambivalent. Nach der Definition des Veränderungsmodells werden wir also gerade in nahezu allen existentiellen Bereichen „aufgetaut“. Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, – schon sind passende Rettungsringe und sichere Küsten in Sicht durch zeitgemäße Moden und Methoden des (psycho-)logischen Managements. Diese setzen entweder auf Spiegelung in einer Doppelung der erkannten Fragilität und begegnen Auflösung begegnen bzw. Transformation durch geplante Offenheit, Flexibilität und Agilität. Oder sie versprechen stabile Anker, deren Substanz wahlweise aus weichen Materialien wie Resonanz oder Resilienz bzw. aus den harten Tools der Projekt-, Prozess- oder Qualitätssicherungsbaukästen besteht. An Optionen besteht also scheinbar kein Mangel. Vermutlich jedoch hatte der Visionär Hölderlin bei der Formulierung seines Satzes Anderes, Intelligenteres im Sinn.

Gerade sind sie ausgesprochen, kaum sind sie verstanden, schallt also bereits der Ruf nach adäquater Beantwortung oder werden Geschütze gesucht, die – noch gar nicht zu Ende gedachten – Entwicklungen im Keim zu ersticken, umzubenennen oder für unsinnig zu erklären. Richtig ist diese Reaktion sicherlich in Bezug auf die pauschalen und extremen Formulierungen: Denn dass sich aktuell wirklich alles wirklich komplett und wirklich für jeden verändert, wie es die absolute Semantik der Begriffe suggeriert, stimmt wohl genauso wenig wie behauptet werden kann, es fänden kaum oder gar keine Veränderungen statt, die nicht auch die Einzelnen in Ihrem Alltag erreichten. Der gesellschaftliche Wandel findet, so erkennen die Forscher, heute in wesentlich schnelleren Zyklen und einer wesentlich größeren Reichweite statt als jemals zuvor. Die gesellschaftlichen Megatrends wie Digitalisierung, Individualisierung, Globalisierung etc. beschleunigen und intensivieren damit die Anforderungen auch der ganz persönlichen Lern- und Veränderungskompetenz enorm. Gelungenes Unfreeze meint damit auch ein Selbstverständlichwerden des nicht Selbstverständlichen, ein sich Einfühlen in einen neuen Normalzustand mit weitaus geringerer Basisstabilität.

Gegengifte: Unaufgeregtheit, Entschleunigung und Reflexion

Um vom Dauerthema des Wandels und immer neuen Zwängen und Motivationen zur Veränderung nicht erschlagen zu werden, sondern sich als Einzelner, als Organisation, als Gesellschaft aktiv darauf zu beziehen, bedarf es keiner Augenwischerei und schon gar nicht eines schnellen „Augen zu – und durch-Verhaltens“.. Ganz im Gegenteil gilt: erst wenn es uns gelingt, die Facetten und Dimensionen dahinter genau zu durchleuchten und zu begreifen, das Unfreeze also eher schonend und vor allem sehr bewusst zu erleben, können wir tatsächlich die jeweils relevanten Veränderungsfaktoren filtrieren und – je nach Bedeutungszuweisung – für uns adaptieren in einem Lernprozess. Disruption an sich ist kein Wert, ganz im Gegenteil, – wenn auch die Zahl der sich mit dem Substantiv oder abgeleiteten Adjektiv schmückenden Publikationen und Veranstaltungen dieses suggerieren. Wertvoll jedoch ist die Erkenntnis, welche Prozesse und Strategien dadurch bedroht sind und welche neuen Wege und Ideen stattdessen für eine Zukunftsplanung aktiviert werden müssen. Entwicklungen, die nicht mehr linear erscheinen, sondern als Transformation definiert werden, können niemals durch Verhaltensanpassungen im Sinne eines progressiven „Mehr“, „Besser“, „Weiter“ etc. beantwortet werden. Die Antworten müssen reflektierter ausfallen, der Blick „out-of-the-box“ gewagt werden, damit ein Kultur- oder Systemwechsel gelingen kann. Auch und gerade für die VUCA-Welt muss daher festgehalten werden: Wirkliche, d.h. nachhaltig wirkende und erlebbare Veränderung gelingt nur dann, wenn sie langsam und vor allem (verantwortungs-)bewusst angegangen wird, wenn die Richtung, die Bedeutung und vor allem der Sinn dahinter erkennbar sind. Alles andere bleibt Aktivismus oder Effekthascherei.

Leadership for Change

Die Basiskompetenz von Führungskräften im Change liegt in der Metakommunikation. Denn Ihre Aufgabe ist es vor allem, das Gefühl der Unsicherheit und Destablisierung durch Orientierung und Perspektiven, durch persönliche Bezüge und Erfahrungen zu kompensieren. Veränderung heißt Lernen und erfordert daher lernfähige Führungskräfte. Mit einfachen (Durchhalte-)Parolen, mit einem zweidimensionalen Entweder-Oder ist es dabei jedoch nicht getan. Es gilt tatsächlich auch, die neue Dimension des Unklaren, Unvorhersehbaren und Mehrdeutigen der gesellschaftlichen Entwicklungen auszuhalten, zu formulieren und als dritte Dimension in die Lern-, Führungs- und Steuerungsprozesse zu integrieren. Learning Leaders sind diejenigen, die sich an die Spitze der Change Prozesse setzen – nicht, weil sie schon alles kennen und wissen, sondern vielmehr, weil sie den Mut haben und die Verantwortung spüren, die neuen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten auszuhalten und auszubalancieren.