Bunt, quer, nützlich und innovativ: ein Plädoyer für die Liberal Arts

Über MOOCs lässt sich bildungs- und gesellschaftspolitisch trefflich streiten. Publikumswirksam sind sie allemal – zumal dann, wenn renommierte Wissenschaftler wie der Geschichtsprofessor und Universitätspräsident Michael S. Roth über Moderne und Postmoderne  referiert. Marketing in eigener Sache muss gewiss nicht als Hauptmotiv unterstellt werden. Die Erschließung des digitalen Lernraums kann bei ihm getrost als Methode angesehen werden, übergreifendes Wissen in möglichst vielfältigen, neuen oder auch bislang unerschlossenen Dimensionen einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Zukunft meint immer ein Stück darüber hinaus

So wie bei den massive open online courses immer ein Stück mehr als das bisherige Zielpublikum adressiert wird – von dem dann wiederum nur ein kleiner Teil bis zur didaktischen Zielgeraden durchhält, was allerdings ein ganz anderes Thema beschreibt – so kann Zukunftslernen auch inhaltlich als ein Ziehen weiterer, themen- und disziplinenübergreifender Kreise gedacht werden.

Innovation durch Tradition bleibt die Ausnahme

Wenn also der „Input“ der zukünftigen Wissensdimensionen ebenso wie der „Output“ oder „Outcome“ vermittelter Kompetenzen  vor allem eines gemeinsam haben, i.e. ihre extreme Unklarheit, Vernetztheit und Widersprüchlichkeit, so müssen zumindest Entwicklungs- oder Veränderungsfähigkeit auf der einen und Integration bzw. Mehrdimensionalität auf der anderen Seite als Basiskategorien für Didaktik und Inhalte der Bildungsprozesse gesetzt werden. Damit tun sich die über lange Zeit gewachsenen Strukturen unserer schulischen und akademischen Institutionen erfahrungsgemäß sehr schwer. In seinem 2014 erschienenen Buch „Beyond the University“ formuliert Roth die Antwort auf diese Herausforderung in einem traditionellen Bildungskonzept:

„Liberal  Education Matters“

Für eine Form universitären Lehre, die den neuen und disruptiven Phänomenen unserer Lebens- und Alltagswelt entspricht, braucht es eine Bildungsidee, die weniger auf Rezeption und Anwendung denn auf individuelle Befähigung, übergreifende Zugänge und kritische Reflexion der lebenslang Lernenden zielt. Roth rekurriert in seiner Empfehlung für den US-amerikanische Gesellschafts- und Bildungssystem auf die pragmatisch orientierten Klassiker der eigenen Nation, gleichwohl konzedierend, dass „liberal education is not just an American idea“ (op.cit. 3). Tatsächlich bildet das Konzept eines ganzheitlichen, den Menschen in seinem Streben und Sinn ausmachenden Bildungskanon die Basis erst der antiken Philosophie, später der mittelalterlichen Scholastik und der ersten Phase der europäischen Universitäten zwischen Humanismus und Aufklärung.

3 + 4 des Weltwissens

Historisch umfassen die „artes liberales“ einen 7-teiligen Fächerkanon aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Frei („liber“) war, wer sich – ohne einer Erwerbsarbeit hingeben zu müssen – mit eben diesen wertvollen Wissensgütern auseinandersetzen konnte. Und frei wurde derjenige, der durch sein Studium geistige Unabhängigkeit, Urteilsfähigkeit und Selbstsicherheit im Umgang mit Neuem, Anderem, Fremden erlangen konnte. Dieses antike „transforming of the self“ klingt im humanistischen Ideal und den heutigen Überlegungen zur Orientierungs- und Sinnstiftungsfunktion sozialer Bildung wieder an.

Ein Stück Freiheit für die digitale (Bildungs-)Welt

Die Hochschulen und alle anderen privaten und öffentlichen Lehr- und Lerninstitutionen haben sich längst auf den Weg gemacht: Die Neuorientierung wird durch innovative didaktische Formate und Methoden, aber auch komplementäre Angebote wie Persönlichkeitsbildung, interdisziplinäre und projektorientierte Aufgabenstellungen oder übergreifende Veranstaltungen wie ein Studium Generale erfolgreich erprobt. Tatsächlich bergen die Artes Liberales aber ein noch viel weit greifenderes Potenzial – das auch durch eine Kopie der amerikanischen Liberal Art Schools und Colleges nur unzulänglich zu heben ist: Die Struktur des antiken Bildungskosmos kann längst nicht mehr als Beschreibungs- oder Erklärungswissen in toto herangezogen werden. Im Post-post-Zeitalter der Weltwissensgesellschaft benötigen wir eher dynamische Strukturen und logische Inseln zur Identifikation von Ähnlichkeiten, Beziehungs- und Prozessmustern, die innerhalb und zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen Einordnung und Entwicklung ermöglichen. Der Blick zurück auf die sieben Künste könnte daher eine neue Freiheit generieren, um das aktuelle Primat der Handlungsorientierung und einer hohen Fachspezifik zu Gunsten einer stärkeren Sinnorientierung und fachunabhängigen Befähigungslogik aufzubrechen. Unsere Bildungspläne – auf allen Stufen der Lernpyramide – brauchen kein quantitatives Mehr, häufig aber ein qualitatives Plus an Tiefe, Breite, Buntheit und Pragmatik. Das schließt auch und gerade die Freiheit mit ein, Neues zu lernen, das man nicht gerade jetzt und gerade für den definierten Handlungszweck auch braucht.

Anja Ebert-Steinhübel
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